Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 83
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Wetzel René, Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana, Cologny-Genève 1994, S. 134-137.

Handschriftentitel: Heinrich von Veldeke: Eneide
Entstehungsort: Hessen
Entstehungszeit: 3. Dr. 14. Jh.
Beschreibstoff: Papier, Wz.: Ochsenkopf mit Augen, einkonturiger Stange u. einkonturigem Stern, ähnl. Piccard 2,2, Abt. VI, Nr. 285 (Bologna, Kl. Heilsbronn, Nürnberg, München 1370-1372; dazu Nr. 282 die Form A, Ellwangen, Hanau, Heidelberg, Kl. Heilsbronn, Nürnberg, Rothenburg o. T., Gießen, Hohenstein 1372-1377), ähnl. auch BR. 14612 (Brüssel 1371; Var. Nürnberg vor 1371). Für das Vorsatzbl. u. die Spiegel ein viell. etwas jüngeres Papier ohne Wz.
Umfang: I + 61 Bll
Format: 300 x 200 mm
Seitennummerierung: Neuere Bleistiftfoliierung 1-62 (Vorsatzbl. mitgezählt). Nicht beschrieben das Vorsatzbl. (außer Titel des 15. Jhs. u. Besitzeintrag 1r).
Lagenstruktur: 7 Lagen, in der Majorität Quaternionen: 1I + 5 IV41 + V51 + VI(-1)62; Vom Vorsatzbl. ist ein Streifen des Gegenstücks am Ende der 1. Lage erhalten. Das letzte Bl. der letzten Lage fehlt (unbeschrieben?). Alte Bl.zählung j-iiij bzw. j-v für die 1. Hälfte jeder Lage (Tinte), für die letzte Lage nur noch die Nr. des 6. Bl. (vj) sichtbar. Alte Lagenzählung und -bezeichnungen (Tinte) am Schluß jeder Lage (j[us] q[ua]t[er]n[us] usw. außer für die letzte Lage, wo das Schlußbl. fehlt), ebenso (z. T. beim Binden stark beschnittene) Reklamanten, beides von Schreiberhand.
Zustand:
  • Der Buchrücken speziell oben defekt. Der Einband vielfach bestoßen u. berieben, fleckig. Der Buchblock im allg. gut erhalten, Ränder leicht abgegriffen; Bl. 1-5 die oberen Ecken wegen Feuchtigkeitseinwirkung abgebröckelt (geringer Textverlust Bl. 2-3); stellenweise Wurmfraß.
  • Der Cod. wird in einer mit braunmeliertem Papier bezogenen Pappkapsel aufbewahrt. Darauf dieselbe Exlibris-Marke wie auf dem Spiegel u. ein rotes Titelschild, Leder mit Goldprägung, MANUSCRIPT / Herrn Von / Veldigs ENEIDE.
  • Keine nennenswerten Spuren von Lesertätigkeit. Zahlreiche Korrekturen durch Schreiber- u. Rubrikatorenhand. Viell. vom Schreiber auch die Federprobe 25v quer am linken Rand u. leicht beschnitten (Homo quidam fecit cenam, Lc. 14,16).
Seiteneinrichtung: Schriftraum 14,8 x 23,1; zweispaltig, Text fortlaufend geschrieben (Verse nicht abgesetzt), 44-47 Z. pro Sp. Sp.rahmen u. Linierung mit Bleistift (49r Sp.rahmen mit Tinte). Rubriziert.
Schrift und Hände: Dt. got. Buchschrift des späten 14. Jhs., durchgehend von einer Hand, höchst gleichmäßig (wenn zu Beginn auch sorgfältiger u. konstruierter), aber zügig geschrieben.
Buchschmuck: Beschränkt sich im wesentlichen auf die Initialensetzung u. Rubrizierung. Eine große, weit hinuntergezogene rote Initiale zu Beginn des Textes 2r. Die Anfangsbuchstaben der Abschnitte in einfachen roten Lombarden, meist einzeilig (Beginn der Distinctiones dreizeilig). Die Majuskeln der Kopfzeilen an den Rand hinaufgezogen, verziert (Ornamente u. groteske Masken), mit roten Elementen (Besatz, Strichelung u. a.).
Einband: Weinrot gefärbter, heute nachgedunkelter (Ziegen-?)Ledereinband der Zeit auf Holzdeckeln. Die je 5 Buckel der Deckel fehlen, ebenso die Schließen. Nur ein rundes Metallplättchen zur Befestigung der unteren Schließe auf dem Hinterdeckel erhalten. Einfache diagonale Streicheisenlinien auf beiden Deckeln (z. T. kaum noch sichtbar). Streicheisenlinien auch als obere u. untere Begrenzungen der Bünde. 4 doppelte erhabene Bünde.
Zusatzmaterial:

Die Spiegel bedecken die Innendeckel nur zu Zweidritteln. Der Raum gegen den Buchblock hin war mit Perg.makulatur beklebt, davon auf dem Holz des Vorderdeckels noch der Leimabdruck sichtbar; für den Hinterdeckel ist das beschriebene Perg. erhalten u. vom Deckel gelöst: Erhalten ist 1 Sp. (Rest zw. 51v u. 52r) einer lat. Hs. liturgischen Inhalts (unter anderem vollständig Psalm [Vulgata] 90, neumiert, u. Matth. 4,1ff.) in roman. Minuskel viell. noch des 10. Jhs.

Neumierte Passagen wechseln mit reinen Textpassagen ab. Rubriziert. Der Textabklatsch des vorderen Innendeckels scheint derselben Hs. zu entstammen.

Auf dem vorderen Spiegel klebt eine ovale Exlibris-Marke mit dem Wappen der Grafen von Degenfeld-Schonburg und der Umschrift GRAEFLICH · DEGENFELD · SCHONBURGSCHE BIBLIOTHEK ZU EYBACH. Besitzeintrag desselben Wortlautes, wohl aus dem 19. Jh., quer auf dem Spiegel (selber Eintrag von derselben Hand auch 1r). Ein großes geschwungenes Bleistift-R, eine weitere, radierte Bleistifteintragung.

Auf dem hinteren Spiegel die Bibliothekseinträge der Bodmeriana, dazu ein Papierbl. eingeklebt, datiert vom 24. Februar 1860 in Stuttgart u. unterzeichnet mit Dr. Menzel (wahrsch. Wolfgang Menzel [1798-1873], Schriftsteller, Publizist, Politiker; vgl. ADB 21, S. 382-384) mit einer Notiz zur Hs.

In diversen Lagenmitten auch sonst zur Verstärkung beim Binden Perg.-Makulatur verwendet. Zur liturgischen Hs. der bereits erwähnten Spiegel-Makulatur gehören auch die Falze zw. den Blln. 5/6, 21/22, 29/30, 37/38 u. 46/47.

Zw. Bl. 13/14 Perg.falz einer Urkunde aus der Zeit des Einbandes mit dem Text Wir Heinrich von Wiczleub[e]n Tuͤmherre zu Wirczburg und Lantrichter dez Herzogentuͤms zu Frank[en] (Heinrich von Witzleben [-lauben], Generalvikar des Würzburger Bischofs Gerhard von Schwarzenburg, Würzburger Domherr u. Landrichter des Herzogtums Franken, gest. am 13. Juni 1405 als Domkantor; vgl. August Amrhein, Reihenfolge der Mitglieder des adeligen Domstiftes zu Wirzburg, St. KiliansBrüder genannt, von seiner Gründung bis zur Säkularisation 742-1803 (Archiv d. Hist. Vereins von Unterfranken u. Aschaffenburg 32). Würzburg 1889, S. 240, Nr. 722. Zur selben Urkunde gehören wahrsch. die beiden Perg.reste zw. Bl. 9/10 u. 17/18 mit nur einzelnen erhaltenen Buchstaben.

Fragmente aus der Schlußpartie von Vergils Aeneis (lat.; 12. Buch, V. 58-93, 650-654, 711-715, 772-776) finden sich zw. Bl. 12/13 + 14/15, 41/42 + 51/52) in einer zierlichen Buchkursiven wohl des 14. Jhs.

Zw. Bl. 57/58 ein Perg. streifen mit versch. Schriften, Haupthand in got. Buchschrift des 12./13. Jhs., dazu eine kleinere kommentierende Schrift u. eine spätere Notula (alles lat.).

Makulatur zw. Bl. 17/18 (u. 25/26, nicht beschrieben) aus derselben Hs.?

Hauptsprache: Mundart: hess., vielleicht zentralhess., mit einigen nördlichen od. nordwestlichen (maasländischen?) Relikten (vgl. Klein, S. 139-141).
Inhaltsangabe:
  • 2ra-62vb Heinrich von Veldeke: Eneide (Eneasroman) >Distinctio primo [sic]/<
    Jr hait wol virnome[n] daz,
    wi der koni[n]c Menelaůs besaz
    Troia[n] die riche[n]
    vil geweldecliche[n]
    (62va)
    so wil er unschůldig sin.
    Also ist iz walsch un[d] lati[n]
    ane missewende.
    Hie sie der (62vb) rede ein ende.
    Laus t [ibi] [sit] [Christ]e,
    quia liber explicit iste.
    Textgeschichte: Es sind heute 7 vollständige u. ebensoviele fragmentarische Textzeugen von Veldekes Eneas-Roman bekannt. Unsere Hs. (E der Überlieferung) galt seit ihrem Verkauf durch den Grafen von Degenfeld-Schonburg als verschollen (vgl. noch ²VL 3, Sp. 907 u. Kartschokes mhd./nhd. Ausg. 1986, S. 857, Anm. 41!). Der Cod. teilt den Text in 6 Distinctiones ein: I (2ra): V. 1-2528; II (12va): V. 2529-3740; III (17va): V. 3741-5000; IV (23ra): V. 5001-7964; V (36rb): V. 7965-9734; VI (44rb): V. 9735-13528. Unsere Hs. stellt sich auf Grund gemeinsamer Lücken (aufgelistet bei Behaghel [s. u.], S. XII) u. auch sonst eng zur Heidelberger Hs. Cpg 368 (H), die bereits 1333 in Würzburg für den Deutschordensritter aus Rheinpfälzer Ministerialengeschlecht Wilhelm von Kirrweiler geschrieben wurde. Daß die Verwandtschaft von HE weiter geht, als die Liste Behaghels vermuten läßt, beweisen die von Kornrumpf (s. o.), S. 376, Anm. 18 aufgeführten Belege. Schieb/Frings (I, S. XLV) weisen darauf hin, daß auch die Vorlage von H Distinktionen-Einteilung gezeigt haben könnte (große, zweifarbige Initialen an den entsprechenden Stellen!). H kann nicht die direkte Vorlage von E gewesen sein, wohl ist aber eine für E u. H gemeinsame Quelle anzusetzen, die Behaghel vielfach verdorben sieht u. Klein (S. 141) als in thür.-hess. Schreibsprache gehalten, die eher hess. als thür. war. In Behaghels Stammbaum hat E (zusammen mit h u. H) seinen Platz im Y-Ast. Schieb/Frings streichen die Güte unserer Hs. schon nur aus der eingeschränkten Kenntnis von deren Anfang u. Schluß heraus u. erachten E als 'zweifellos äußerst wertvolle Handschrift' (I, S. XLVII).
    • Abdruck von Anfang u. Schluß des Cod. Bodmer 83 (knapp 400 Verse) bei Pfeiffer, Quellenmaterial, S. 172-176.
    • Auch heute noch keine wirklich befriedigende Ausg. der Eneide. Die wichtigsten: Ludwig Ettmüller (Hg.), Heinrich von Veldeke (Dichtungen des deutschen Mittelalters 8). Leipzig 1852 (Grundlage auch für Dieter Kartschokes mhd./nhd. Ausg., Stuttgart 1986)
    • Otto Behaghel (Hg.), Heinrichs von Veldeke Eneide. Heilbronn 1882
    • Gabriele Schieb u. Theodor Frings (Hg.), Henric van Veldeken, Eneide. I. Einleitung u. Text (DTM 58). Berlin 1964.
    Überlieferung
    • Grundlegend bleibt Behaghels Einleitung zu seiner Textausg., besonders S. XI-XXXVI, mit einem Stemma, das bis heute unbestritten blieb
    • Cola Minis, Textkritische Studien über den Roman d'Eneas und die Eneide von Henric van Veldeke (Studia Litteraria Rheno-Traiectina 5). Groningen 1959
    • Gabriele Schieb, Die handschriftliche Überlieferung der Eneide Henrics van Veldeken und das limburgische Original (Sitzungsberichte der dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Kl. f. Sprachen, Lit. u. Kunst 3). Berlin 1960
    • Schieb/Frings I, S. XI-LXXXIII
    • Ein Litterae-Band ist von Nigel F. Palmer in Vorbereitung.
Provenienz der Handschrift: Aus der eingebundenen Urkundenmakulatur ergibt sich, daß die Hs. nicht vor dem 27. Januar 1388 gebunden worden sein kann, Datum, an welchem Heinrich von Witzleben zum ersten Mal als Würzburger Domherr u. Landrichter des Herzogtums Franken urkundet (vgl. Amrhein, S. 240). Die rote Farbe des Rubrikators (u. U. mit dem Schreiber identisch) auf der Perg.makulatur 25v u. 51v ist wohl einem Farbabdruck zuzuschreiben u. nicht einer Tätigkeit des Rubrikators noch nach dem Binden. Ort der Entstehung u. Ort des Bindens (Würzburg?) können also nicht unbedingt gleichgesetzt werden, auch wenn die Schwesterhs. unseres Cod. (Cpg 368, s. u.) 1333 in Würzburg geschrieben wurde. Von einem der ersten Vorbesitzer stammt der Titel (15. Jh.) 1r Wie Troye gewunnen wart. Zur Vermutung, daß Georg Fabricius (1516-1571) die Hss besessen haben könnte, vgl. Kornrumpf (s. u.), S. 369, Anm. 8. Wann sie in den Besitz der Grafen von Degenfeld-Schonburg nach Eybach (bei Geislingen, Württemberg) gelangte, ist nicht mehr zu eruieren, wahrsch. nach 1716 (Grafentitel erst seit diesem Jahr, vgl. Genealog. Handbuch d. Adels 28 (1962), S. 155; in den Besitzereinträgen bereits so genannt), doch vor 1776, als der Cod. in dem von Heinrich Christian Boie in Leipzig hg. 'Deutschen Museum' (Bd. 1, S. 335f., vgl. Kornrumpf, S. 379f.) vorgestellt wurde. Martin Bodmer erwarb die Hs. mit großer Wahrscheinlichkeit zu Beginn der 30er Jahre direkt von der gräflichen Bibliothek.
Bibliographie:
  • Pfeiffer, Quellenmaterial, S. 172-176
  • Textausg. Behaghel (s. u.), S. III-IV
  • Textausg. Schieb/Frings (s. u.), S. XLVII-L
  • Becker, S. 28f.
  • Klein, S. 139-141 u. 167
  • Gisela Kornrumpf, Zu einem 'Eneide'-Fragment der Brüder Grimm. In: PBB 110 (1988), S. 368-381, hier S. 379-381.